In einem Haus schellt das Telefon
Als ich ein Kind war hat meine Mutter mich dafür bezahlt, Gedichte auswendig zu lernen. Für meine Geschwister galt natürlich das gleiche Angebot. Sie wollte, das wir Gedichte kannten und das war ihr Weg, uns zu motivieren. Ich glaube es hat ganz gut geklappt, ich konnte einige Gedichte: Das Huhn und der Karpfen zum Beispiel, oder den Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland.
Wir hatten nahezu freie Gedichtwahl, aber Liedtexte galten nicht, glaube ich. (Das wäre zu einfach gewesen und hätte uns nicht zum lesen motiviert.) Es gab ein Gedichtbuch aus dem alle Gedichte erlaubt waren. Wir hätten aber auch andere vorschlagen können. Der Wert eines Gedichtes maß sich an seiner Länge. Pro Strophe gab es, glaube ich, 1 DM.
Alles in allem finde ich das System gut und kann mir vorstellen, es auch bei meinen Kindern anzuwenden.
Ein Schlupfloch im Regelwerk
Natürlich versuchte ich einige Male, möglichst günstige Gedichte zu finden. Also blätterte ich in besagtem Buch und fand eines, das lächerlich kurz war:
In einem Haus schellt das Telefon.
Dann totenstille.
So ein Quatsch, das ist doch kein Gedicht! Es reimt sich nicht und da passiert auch nichts. Und es ist so kurz, das man es nicht lernen muss, man braucht es sich nur zu merken.
Mit dem Stolz eines Anwalts, der eine Gesetzeslücke gefunden hat, präsentierte ich meiner Mutter meinen Fund. Ich sagte das ganze Gedicht fehlerfrei und auswendig auf, verwies sie auf das Buch und verlangte 1 Mark, weil das Gedicht ja schließlich eine Strophe lang sei. Meine Mutter hob die Augenbrauen, protestierte ein wenig und einigte sich mit mir auf 50 Pfennig. In meinem Kopf ist das noch heute als Sieg verbucht.
Es war aber auch klar, dass ich mit so etwas nicht noch einmal durchkommen würde - sonst wäre ich wahrscheinlich tief in die Welt der Schüttelreime und Haikus eingetaucht.
In den nächsten Jahren vergaß ich die Geschichte und die meisten der Gedichte. Nur das Gedicht vom Haus vergaß ich nicht. Wie auch, es war so kurz und simpel und war für mich mit einem Erfolgserlebnis verknüpft.
Merkwürdig
Wenn ich heute an die Geschichte denke, frage ich mich warum ich das Gedicht nie näher mit jemandem besprochen habe. Es war ein merkwürdiger Ausreißer in einem Buch voller schöner und normaler Gedichte und ich verstand nicht wovon es handelt. Jemand geht nicht ans Telefon, na und? Passiert doch dauernd.
Heute sehe ich das Gedicht mit anderen Augen - es gruselt mich fast, wenn ich daran denke. Meine Gedanken gehen so:
- Sind die Bewohner des Hauses einfach gerade nicht da? Nein, denn totenstille verweißt auf etwas Unheilvolles. Sonst hieße es ja wohl “In einem Haus schellt das Telefon und keiner geht ran.”
- Ist das Haus verlassen oder die Bewohner längst tot? Nein, sonst würde das Telefon ja nicht klingeln. Es gibt wohl jemanden, der erwartet das da jemand rangehen könnte.
Was ist also passiert? Ich kann mir heute 3 Szenarien vorstellen, eine tragische, eine einsame und eine schaurige.
tragisch
Jemand hat in dem Haus gelebt und ist kürzlich verstorben. Ein Freund weiß noch nichts davon und ruft an. Weil niemand rangeht wird er es vielleicht nochmal versuchen. Erst später wird er herausfinden, das es für ein Gespräch für immer zu spät ist.
einsam
Das Haus ist kein Haus, es ist der Kopf einer Person mit Demenz. Das Klingeln ist ein aufleuchtender Gedanke oder eine Erinnerung, eine mögliche Verbindung an die echte Welt da draußen. Aber es geht vorbei, und es wird wieder dunkel und still in dem Kopf.
schaurig
In dem Haus lebt eine alte Person. Sie ist gestürzt und kann nicht mehr selbstständig aufstehen. Nun liegt sie da und braucht Hilfe. (Das ist leider kein ungewöhnliches Szenario)
Das Telefon klingelt! Die Chance, Hilfe zu holen. Die Person streckt die Hand zum Hörer. Aber es ist zu weit weg oder zu hoch, um es zu erreichen. Das Telefon verstummt. Kraftlos sinkt die Hand. Es kommt keine Hilfe. Totenstille.
Ein zweiter Blick
Das Gedicht erinnert mich heute an die Tiny Tales von Florian Meimberg, nur etwas subtiler.
Ich würde das Gedicht gerne noch einmal lesen. Aber ich kann es im Internet nicht finden. Leider weiß ich auch nicht mehr, welches Gedichtbuch wir damals verwendet haben. Den Text oben habe ich es aus dem Gedächtnis aufgeschrieben (waren die 50 Pfennig nicht gut angelegt?), aber es mag sein, dass ich ihn nicht genau richtig hinbekommen habe. “schellt” das Telefon oder “klingt” oder “klingelt” es? Ich wüsste auch gerne, wer es geschrieben hat und ob es mehr Informationen dazu gibt.
Bis ich das rausgefunden habe kann es noch etwas dauern.